Das Wort "Paradigmenwechsel" in seinem originalen wissenschaftsgeschichtlichen Kontext. Wie sähe denn ein solcher Ansatz für den Veganismus wirklich aus?

Was bedeutet das Wort Paradigmenwechsel (paradigm change or paradigm shift)?

Dieses Wort stammt aus einem sehr spezifischen Kontext, der eigentlich sehr wichtig ist, um zu verstehen wie ein Paradigmenwechsel in der Gesellschaft aussieht und wie er zustande kommt. Das Buch The Stucture of Scientific Revolutions (1962) von Thomas Kuhn erklärte wie ein Paradigma im Bereich der Physik oder der Chemie die Schulbücher, die Literatur, die Methode, die Experimente und die Denkweise und Grupierungen von Wissenschaftlern prägt. Er legte ein Schema aus, das vereinfacht diesen Zustand erklären sollte, denn nur mit der Erschaffung von wissenschaftlicher Theorie, die sich aber immer wieder ändert und widerspricht, kann ein solches Paradigma auftauchen. Durch den wissenschaftlichen Diskurs und durch neue Entdeckungen entstehen kritische Sichtweisen auf das Paradigma und diese akkumulieren zu einer sogenannten "Krise", infolgedessen etabliert sich ein "Neues Paradigma".

Tatsächlich hat diese Vision wenig gemein mit einer veganen Einstellung, die sich durch einen Paradigmenwechsel in der Gesellschaft ausbreiten soll. Erstens geht es bei ersterem um eine kleine Elite in ihren respektiven Tätigkeitsfeldern, z.B. im Bereich Elektromegnetismus oder Genetik. Zweitens setzt sie eine Tatsache voraus: Dass Paradigmenwechsel forwährend passieren, für kleine sowie auch grosse Lücken und Fehler in unserem Verständnis. Veganismus (oder andere Einstellungen zur Tierethik) behebt weder eine Lücke noch einen Fehler in unserem Wissen. Es ist eine ethische Grundeinstellung, die keine technologischen Sprünge macht, auch nicht durch Superfood und Alternativfleisch.

Es schmerzt mich das zu sagen, aber Wissenschaftler haben nicht einfach festgestellt, das jetzt ein Neues Paradigma von selbst daherkommen wird und das "just" die Zeit dafür ist! Die Wissenschafter wissen es selber nicht, ob und wann sie Teil eines Paradigmenwechsels werden. 

Ein Paradigma sieht man an seiner Ausbreitung in der Literatur, ja in der Kunst! Der Bildung und den Recherche Institutionen, die allesamt mit ähnlichen Lösungen und an ähnlichen Problemen arbeiten! Und das geschieht durch die Erschaffung von Literatur, Kust, Bildung, z.T. Propaganda, Recherche Institutionen, die sich alle samt auf was basieren? Na auf neuen wissenschaftlichen Auslegungen. Was sonst? Ein Neues Paradigma stützt sich auf Menschen, die solche Beiträge leisten. Ein Neues Paradigma kann im Parlament erst dann gewählt werden, es kann erst dann autonom reproduziert werden, in Schulbüchern und Gesetzesanweisungen, wenn solche Beiträge das Paradigma herbei geholt haben. Das Paradigma ist der status quo, der durch die "Krise" erzeugt wird, weil Beiträge dazu trugen und Wissenschaftler dazu überzeugt wurden und dazu gestanden sind und andere verloren und aufgaben oder gestorben sind (das alte Paradigma prägte ihre Gewissen).

Warum gibt es dann keine vegane Literatur, vegane Fachzeitungen, vegane politische Kunst, vegane Kinderbücher, vegane Bibliotheken, vegane Fitnessräume, vegane Radiosender, vegane Kinofilme? Weshalb gibt es nur Beyond Burger und ihre Varianten oder Celebrity-Statements, oder sog. lifestyle activism?

Ich bin für eine politische Sensibilisierung, genauer gesagt eine Sensibilisierung zur demokratischen Politik, aber wie kommt man eigentlich vorwärts? Wie macht man Massenkampagnen oder demokratische Gesetze ohne Basis?

Vor zwei Hundert Jahren hat jeder Plutarch gelesen und jeder konnte sehen, was er zu striktem vegetarismus zu sagen hatte (in seiner Schrift Peri Sarkophagias "ΠΕΡΙ ΣΑΡΚΟΦΑΓΙΑΣ"). Plutarch hat im kulturellen Bewusstsein des 18. Jh. gesiegt, aber nicht wenn es um Tierethik ging.

Plutarch war ein stärkerer Einfluss als Peter Singer es jemals sein wird. WAS ist unsere vegane Literatur? Wo sind unsere politischen Romane (nach den Vorzeigefällen Voltaire und Rousseau und all den Erotikschrifften mit revolutionärem Gedankengut im 18. Jh.)?

Wo sind unsere sociétés und salons, die diesen Paradigmenwechsel herbeibringen werden (wie im 18. Jh. dem Historiker Augustin Cochin zufolge)?

Wenn eine Totalrevision der schweizerischen Verfassung geschehen sollte, muss unser Gedankengut bereits kulturell verankert sein, sonst wird es nie zu einer monumentalen Veränderung, wie die des Paradigmenwechsels, kommen.