Kulturkampf und Imperialismus im antiken China am Beispiel des Dichters Sima Xiangru

SIMA Qian: Ssu-ma Hsiangru, Memoir 57, tr. by Hans van Ess, in: The Grand Scribe’s Records. Volume X. The Memoires of Han China, Part III, ed. by William Nienhauser, Bloomington 2016, S. 83-159.

Shiji 117 ist die längste – obschon nicht sehr inhaltreiche – Biographie im Shiji 史記 und handelt vom Dichter Sima Xiangru 司馬相如. Wie in der späteren Geschichtstradition üblich wird das Quellenmaterial für dessen politisches Engagement, Sima Xiangrus Schreibstücke, ganz zitiert. Sima Qian 司馬遷 interessiert sich Kaum für seine künstlerische Seite, umsomehr aber für sein Liebesleben oder sein Milieu und vor allem seine politische Rolle als Dichter, der den Kaiser höchst persönlich als Mäzenen hatte und von ihm auf Zivilisierungskriegs-Kampagne gesandt wurde und nach seinem Tod mit einer Hausdurchsuchen entweder geehrt oder womöglich heimgesucht wurde, wodurch man ihm jedenfalls keinen Fehl anhaften konnte.

Auch ich interessiere mich, indem ich das Shiji als geschichtliche Beweisführung für politische Argumentation in der Han Dynastie nehme, für Simaxiangrus politische Rolle als Poet und gelehrte Koryphäe seiner Epoche. Seine von Sima Qian zitierten Schriften sind ein ausserordentliches Zeugnis für zwei tiefe Impulse in der Geschichte Chinas, die im Zentrum der (kultur)politischen Debatte standen: die Neugründung des Reiches (wobei sich in der konfuzianischen Vorstellung diese Neugründung auf Basis des Zhou-Gesellschaftsmodels geschehen sollte) und die Zivilisierungsmission, ausgehend von der kaiserlichen Tugend und der konfuzianischen Gesellschaftsordnung.

Das Shiji ist das ambitionierte Werk von einem hochrangigen Archivar unter Kaiser Han Wudi 漢武帝 (vielleicht «Leiter des Archivs»), Sima Qian, der es als Pflicht von seinem Vater übernommen betrachtete, das Erbe der geschichtlichen Interpretationen über frühere Zeitalter zu bewahren. Seine Schriften sind ambitionierter als die Chroniken von Machiavelli, die dieser für den florentinischen Staat verfasste, und sind eher wie seine politischen Schriften, die Discorsi, zu verstehen, da sie zur politischen Argumentation dienten. Aber die Idee, mit Geschichte die Argumente der Politik zu untermauern oder mühevoll und subversiv zu nuancieren, ist eine allgemeine Haltung der Geschichtsschreibung in der Vormoderne, die in Sima Qian einen sehr einflussreichen Verfechter fand, sowohl methodologisch wie auch stilistisch.

Die am Hofe der Han debattierten Angelgenheiten über Krieg und Frieden, werden somit im Han Dynastie-Teil vom Shiji genauer beleuchtet, wie zum Beispiel die Ursachen von Aufständen, erfolgreiche und gescheiterte Zivilisierungskriege oder positive und negative Rollen historischer Persönlichkeiten. Liu Zhiji 劉知幾, der als Welterster während der Tang Dynastie ein Handbuch der historischen Methodologie verfasste, bezieht sich stark auf den Aufbau des Shiji, das er sehr lobt, im Vergleich zu den zeitgenössischen kollektiven Unternehmeungen in der Geschichtsschreibung vom damaligen Bureau der Geschichtsschriebung, von dem er ausgetreten war, eben weil ihm der Mangel an Gründlichkeit (usw.) nicht passte.

Es ist wahr, dass auch heute noch und z.B. in Memoiren von Intellektuellen der Mao-Zeit berichtet wird, dass sie als Kind das Shiji lasen, weil sie dachten, damit die Welt der Politik besser zu verstehen. Mit einer solch direkten Bezugsnahme auf antike Autoren wundert es mich deshalb auch nicht, dass es in China tiefe Kontinuitäten in der politischen Philosophie gibt, z.B. in der Auffassung der Militärphilosophie. Liegen vielleicht in der Han-Überlegenheitsideologie, die in Sima Xiangrus Gedichte zum Vorschein kommt, sogar die Anfänge des chinesischen minzuzhuyi 民族主義, des Nationalismus im 20. und 21. Jh.?

Auf den Seiten 128 bis 132 gibt Sima Qian einen Text von Sima Xiangru als Entsandter in einer militärischen Zivilisierungsmission wieder, den er an den Kaiser und die Öffentlichkeit richtete. Darin wird 27 alten weiss-harigen Männern aus Shu folgendes Argument in den Mund gelegt:

We have heard that the Son of Heaven in his treatment of the Yi- and Ti-barbarians should rightfully do nothing more than to halter and yoke them and not allow them to break loose. […] The benevolent have not been able to cause them to come with their virtue, the strong have not been able to annex them to [the middle states] by force. Couldn’t the intention perhaps be an impossible task? […]”

The envoy answered: “How can you say such things? If it is really as you say then Shu would not have changed clothes and Pa would not have altered its customs [but remained barbarian]. […] the common black-haired people fear the origins of something extraordinary. But if it is completed, all under Heaven is happy. […] the Yi- and Ti-barbarians and the states of different customs living in […] regions that are as yet unaffected by corrective instruction, where the flowing winds [of our sovereign] are still weak. If we take them in, then they will rebel against what is righteous and will undermine our rites at our borders, if we keep them out, then they will do evil and act against us, driving off and killing their superiors. […]

Dass die Tungend des Kaisers (fett markiert) nicht genügend gewesen sei, ist aus konfuzianischer Sicht absurd, denn darauf basiert ja seine ganze Legitimität. Die Gewalt als Methode der Bekehrung zu den Sitten, Gesetzen und Kleidern der Han war jedoch die von Han Wudi ausserwählte Methode, um die «Barbaren» zu bezwingen. Deshalb wird sie vom «envoy» verteidigt, indem er zeigt, dass man keine bessere Wahl habe. Dennoch, berichtet Sima Qian, sei Sima Xiangru nicht mit dieser Politik einverstanden gewesen. Ein clin d’oeuil auf das implizit Ausgelassene sei von diesem Text zu vernehmen.

Die «konfuzianische» Sicht, die in der zeitlich naheliegenden Salz-und-Eisen Debatte ausgelegt wurde, nimmt eine anti-Gewalt und pro-Tugend Position ein, da nach dem Tod des Kaisers Han Wudi seine Militärkampagnen gegen die Barbaren offener hinterfragt werden konnten. Im antiken China war der Monarch nicht nur die letzte, sondern die einzige Instanz, die einen Krieg beginnen oder beenden konnte. Also war es wahrscheinlich nur möglich die pro und contra Argumente miteinander zu kontrastieren, nicht aber für eine vom Monarchen nicht eingenommene Position so öffentlich zu plädieren.

Wie dem auch sei, die geschichtlichen Perspektiven aus dem Shiji zeigen, dass der chinesische Staat durchaus Gewalt angewandt und gerechtfertigt hatte, mit dem Zweck die Barbaren zu zivilisieren. Sogar ein Dichter spielte die Rolle der Glorifizierung der kaiserlichen Ausstrahlung in fremden Gebieten.

Ein bekannter Staatsideologe Xi Jinpings, Jiang Shigong, schrieb 2018: Der Grund dafür, dass die chinesische Kultur so tief verwurzelt ist und sich kontinuierlich weiterentwickelt und entfaltet hat, liegt darin, dass China die Kultur seiner Nachbarländer respektiert und die positiven Aspekte dieser Kulturen für die eigene kontinuierliche Verbesserung übernommen hat, sodass es zu einem attraktiven Vorbild wurde, das Nachbarländer und Nachbarregionen studierten und nachahmten. Dabei erzählt die Geschichte eine ganz andere Geschichte!