Popper, Wittgenstein und die Unbegründbarkeit des subjektiven Wissens: Ein Gymnasium Essay (vor Covid-19)
« Am Grunde des begründeten Glaubens liegt der unbegründete Glauben. » – Ludwig Wittgenstein
Ludwig Wittgenstein (1889-1951) macht in diesem Zitat aufmerksam
auf die Grundlage alles Begründbaren und folgert sogleich Unbegründbarkeit,
d.h., dass unser Glauben oder unser subjektives Wissen nicht begründbar ist. Er
war dabei weder der Erste noch der Letzte. Heutzutage bekannt ist das Münchenhausen-Trilemma
von Hans Albert (*1921), es besagt, dass eine Behauptung p seine Grundlage nur auf drei Arten vervollständigen kann. Erstens
ad Infinitum, d.h. durch einen
infiniten Regress, zweitens durch einen Zirkelschluss, und drittens durch einen
dogmatischen Abbruch, indem p zu
einer selbstbezeugenden oder absolut gültigen Aussage erhoben wird. Jede
Begründung muss sich mit einem dieser drei Wege zufriedengeben.
Wie ein wahrer Skeptiker erkennt Wittgenstein das
offensichtliche Paradox, denn die Aussage im Zitat selber leidet zuweilen noch
an Unbegründbarkeit (dieses Paradox ist ein Problem, das ich hier nur indirekt
behandeln werde). Gekoppelt damit, dass Wittgenstein der Gründer des
sogenannten logischen Positivismus war und sich als ‘Anti-Metaphysiker’ hielt,
führt dieses Zitat – ad absurdum – in
die Verwirrung: So stellt er doch, als Philosoph, einen metaphysischen Satz
auf, der nach analytischer Sprachphilosophie, von der er Anhänger ist, als ‘sinnlos’
erklärt wird! Dazu kommt die Widersprüchlichkeit einer Philosophie, welche nur objektiven,
faktischen Sätzen ‘Sinn’ zuschreiben will, dass diese einen letztbegründeten
Glauben verneinen würde bzw. den Glauben rein normativ begründen möchte.
Dieses Essay hat jedoch nicht die Absicht, jene Unstimmigkeiten eines
philosophischen Systems zu rechtfertigen,[1]
sondern ist ein Versuch, eine bessere Alternative mit Karl Poppers
hypothetischem Deduktivismus darzulegen, die mit Wittgensteins Zitat vereinbar
ist; denn ich bin der Meinung, dass unter Druck Popper’scher Kritik die
Grundlage des Positivismus zerbröckelt, aber dennoch eine rigorose
Wissenschaft, und somit die Existenz von einem theoretischen, wissenschaftlichen
Wissen erhalten bleibt.
Klar ist, dass Wittgensteins Zitat, wenn man es liest,
einerseits auf seinen skeptischen Inhalt aufmerksam macht. Andererseits weist
es – als Fazit verstanden – zu einer Rezeptionsgeschichte der Argumente für den
unbegründeten Glauben hin, die ihre Praxis im Konzept des irrationalen Handelns
fundiert. Dass der Irrationalismus keineswegs die einzige Lösung (oder der
einzige Lösungsversuch) zum Problem der Letztbegründung ist, möchte ich anhand
des Beispiels von Karl Popper (1902-1994) zeigen.
Popper war ein prominenter Kritiker der
positivistischen Schule und des Wiener-Zirkels, in dem Wittgenstein sich auch
aufgehalten hatte, und er stellte sich dem Irrationalismus klar entgegen mit
der eigenen Weltanschauung, dem kritischen Rationalismus. Popper sagte aber
selber (im vorletzten Kapitel von seinem Die
offene Gesellschaft und ihre Feinde[2]),
dass sein Rationalismus streng genommen letztendlich auf einer ‘nicht
rationalistischen’, d.h. moralischen (im Sinn von ‘nicht intellektuellen’ aber
emotiven und willentlichen), Grundlage steht, dass dieser aber seiner Meinung
nach das ethisch Richtige sei, in Hinblick auf die Folgen, die ein ‘absoluter’
Irrationalismus – absolute Emotivität, absolute Negation der Ratio – auf
sich tragen würde (auch im Zusammenhang mit seiner Theorie des Totalitarismus
zu verstehen). Rationalismus ist in diesem Sinne als eine Haltung zu verstehen,
auf kritische Argumente Rücksicht zu nehmen und zu versuchen, aus Erfahrungen
zu lernen: Zuzugeben «that ‘I may be wrong and you may be right, and by an
effort, we may get nearer to the truth’.» (ebenda S.431)
Ich würde sagen, dass das pyrrhonische Konzept der
antiken Skeptiker, welches beinhaltet, dass ein Argumentationsgleichgewicht
geschaffen wird durch ein Gegenargument gleicher Stärke, Poppers Haltung ähnelt,
besonders wenn es um die ethische Entscheidung zwischen seiner Version des
Rationalismus und dem Irrationalismus geht, da der Skeptiker den Dogmatismus
des letzteren nicht zulassen und sich eher für die Enthaltung entscheiden würde.
In einer späteren Vorlesung im Jahr 1963[3]
unterscheidet Popper sich selber jedoch von den Skeptikern der Antike. Da diese
die Begründung oder Letztbegründung als Problem der Epistemologie ins Zentrum gestellt
hatten, konnten sie überzeugend jegliches theoretische Wissen abstreiten, d.i.,
sie konnten überzeugend zeigen, dass wir nie von der Wahrheit einer Aussage
ausgehen können, es gibt kein ‘sicheres Wissen’, keine aristotelische episteme.
Doch damit sei noch nicht das Argument für die Möglichkeit von einem
wissenschaftlichen Wissen verwiesen, meint Popper. An diesem Punkt ist für ihn nämlich
ein Argument, das er Kant zuschreibt, ausschlaggebend: Dass der Erfolg von
Newtons Theorie und anderen wissenschaftlichen Theorien auf der Existenz theoretischen,
wissenschaftlichen Wissens beruhen muss. Durch diese zwei Argumente zeigt sich,
dass das zentrale Problem der Epistemologie die Wissenschaftlichkeit einer
Theorie und nicht deren Begründbarkeit ist.
Wie Wittgenstein unterscheidet Popper in seiner
Erkenntnistheorie zwischen Wissenschaft und Metaphysik, doch macht er diesen
Unterschied nicht wie bei Wittgenstein in der Sprache, sondern mit seinem bekannten
Kriterium der Wissenschaftlichkeit, der Doktrin der Falsifizierbarkeit. Eine
Falsifizierung verläuft auf der logischen Ebene von Sätzen, denen man einen
Widerspruch entgegensetzen, welcher empirisch nachgewiesen werden kann. Durch
solche Widersprüchlichkeiten der Theorie mit der Realität lernen wir zwar nicht
über die Wahrheit unserer Hypothesen, sie ermöglichen uns aber, eine bestimmte Hypothese
vorläufig als falsch zu interpretieren. Wir akkumulieren Gründe für die
Unwahrscheinlichkeit gewisser Sätze und somit ganzer Thesen und Theorien, was
aber nicht bedeutet, dass unsere Interpretation endgültig stimmen muss.
Die Unfalsifizierbarkeit eines Satzes bedeutet, dass
für diesen Satz keine reale Basis gefunden werden kann, da es nicht möglich
ist, Tests zu konzipieren, die den Satz in seinem Wahrheitsanspruch stärken
oder schwächen. Nehmen wir den metaphysischen Satz «Es gibt einen Gott/Götter.»
Wir können hier «Gott/Götter» mit anderen noch nicht von unserer Wissenschaft
entdeckten Dinge ersetzen. Existenzsätze dieser Art sind unfalsifizierbar,
weil, egal wo und wie wir danach suchen oder testen, wenn wir sie nicht finden,
keine Falsifikation zustande kommt. Man müsste weitersuchen ad infinitum.
Solche Sätze könnten nie die Basis einer Wissenschaft bilden. An unfalsifizierbaren
Sätzen kann nicht gezweifelt werden, ob sie wahrscheinlich sind: Sie
sind nicht angreifbar durch die reale Welt. In anderen Worten ist Unanfechtbares
– unanfechtbar durch Kritik oder Falsifikation – per Definitionem unwissenschaftlich.
Theorien, welche empirisch widerlegbar sind,
unterliegen jedoch trotzdem Ambiguität, denn je nach Gelüsten kann eine
wissenschaftliche Theorie ad hoc berichtigt
und legitimiert werden, so dass, wenn jeweils ‘widerlegende’ Ereignisse
zustande kommen, diese entweder ganz uminterpretiert oder in die Theorie
einbezogen werden können. Um dies zu verhindern, ist es die Aufgabe des
wissenschaftlichen Theoretikers, ein solches falsifizierendes Ereignis (z.B.
als Ergebnis eines wissenschaftlichen Experiments) genau zu bestimmen, und im
Falle, dass dieses eintrifft, zuzugeben, dass seine Theorie falsifiziert wurde.
In einer solchen Situation dogmatisch zu bleiben (d.i. religiös und
unfalsifizierbar), entlarvt sich somit als ebenso unwissenschaftlich. (Aus
logischer Sicht scheint somit Paul Feyerabend Recht zu haben: «anything goes»,
da wir einer Falsifikation auf der theoretischen Interpretationsebene immer
ausweichen können.[4])
Nach Popper ist daraus zu schliessen, dass unser
Glaube unbegründet ist, weil jede Begründung, und d.h. auch jeder wissenschaftliche
Glaube, zu jeder Zeit unsicher ist, da ein «gleichstarkes Gegenargument»
oder eine Widerlegung erlaubt ist und sich zukünftig noch erdenken lässt oder
ereignen könnte, ad Infinitum (erster Weg des Münchenhausen-Trilemmas,
oben). Dies ist das Hauptargument, das man jeweils den Dogmatikern entgegenstellen
kann (sowie dem «unkritischen» Rationalismus, den Popper in Die offene Gesellschaft und ihre Feinde identifiziert).
Wir können vorläufig begründen weshalb dieses oder
jenes den Fakten entspricht. Weshalb sollten wir uns aber den vorläufigen
Fakten und Interpretationen fügen (d.h. Fakten als «wahr» bezeichnen)? Darüber –
wonach man streben sollte und ob jenes oder anderes gut oder schlecht
sei – kann nur ethisch argumentiert werden. Es ist also z.B. eine ethische
Frage, wie man die Wahrheit definiert, ob man sich für die Theorie der Wahrheitskorrespondenz
von vorläufigen Fakten entschliesst oder die Wahrheit mit einem begründeten
Glauben verbindet. Beide Definitionen werden jeweils von einem Subjekt
angenommen; erstere lässt sich falsifizieren, letztere geht von einem sicheren
Wissen aus, das sich nicht falsifizieren lässt. Was für Motive könnte man
haben, die eine oder andere Definition anzunehmen?
Im 10. Kapitel seines Buchs Vermutungen und Widerlegungen, und in vielen anderen Texten (u. a.
im Addendum I zu Die offene
Gesellschaft und ihre Feinde),
fundiert Popper auch seine Theorie des wissenschaftlichen Fortschritts teils ethisch.
Entgegen jenen, die behaupteten, Poppers Wissenschaftstheorie wäre durch die
Wissenschaftsgeschichte widerlegt worden, war Popper ganz im Klaren, dass
aufeinanderfolgende wissenschaftliche Paradigmen, wie sie bei Thomas Kuhn
(1922-1996) beschrieben[5]
sind, nicht notwendigerweise in allen Aspekten einen Fortschritt für die
Erkenntnis bereiteten bzw. nicht alle Phänomene besser erklärten (wie in der
Einführung, 1982, zu Realismus und das
Ziel der Wissenschaft zu lesen ist). Dennoch kann es der Wunsch eines
Wissenschaftlers sein, eine Theorie zu bevorzugen, welche auf allen Ebenen
einen höheren Falsifizierbarkeitsgrad, einen grösseren Inhalt und mehr
Erklärungsgenauigkeit aufweist, weil sie logisch gesehen legitimer ist,[6]
insofern vom Wissenschaftler eine genauere Kosmologie oder Erklärung der
Welt gewünscht wird. Deswegen kann sehr einfach dagegen Einspruch erhoben
werden, indem man an eine inkompatible ethische Doktrin appelliert. Denn
zwischen zwei einheitlichen ethischen Doktrinen kann im Grunde genommen
rationalistisch nicht entschieden werden; auch nicht zwischen dem ‘guten’
Rationalismus und der Gleichgültigkeit, oder einer anderen, genauso
widerwärtigen Disposition. Jemand kann immer sagen, «Ich schere mich deiner Wissenschaft
oder deiner Fakten nicht.»
Solange Menschen im Spiel sind, die wissenschaftliche
Institutionen beeinflussen, eigennützige Entscheidungen treffen und immer
wieder auf Fakten verzichten, besteht keine Notwendigkeit für
wissenschaftlichen Fortschritt. Verantwortung ist, worauf ich hinauswill. Denn
der Mensch ist sowohl für den wissenschaftlichen Fortschritt als auch die
eigenen Schlüsse, die er zieht, verantwortlich, die er selber erforschen muss
und selber kreiert. Er kann sein subjektives Wissen nicht einfach mit einem
Suppenlöffel aus einem Teich des bis heute akkumulierten Wissens herauslöffeln,
auch wenn die Grosseltern oder andere Vorfahren ihm dabei den Löffel zum Mund
führen würden.
Ohne die Ananke (griechisch: Notwendigkeit oder
Determinismus) besteht auch kein logischer Zusammenhang in der
Wissenschaftsgeschichte oder deren wissenschaftlichen Theorien – d.h. kein
ungebrochener, der aus ‘den Prämissen’ erschliesst werden könnte. Kuhn und
Popper sagen zusammen: Eine neue wissenschaftliche Theorie (welche eine neue
ideologische Revolution künden mag) ist zugleich logisch inkompatibel mit der
vorherigen Theorie und das Resultat einer radikalen Neuinterpretation der
Fakten (die bei uns psychologisch eine ‘gestaltliche’ Veränderung verlangt, was
nach Kuhn mindestens Teil der ‘Inkommensurabilität’ einer Theorie ausmachen
sollte), und entpuppt sich dadurch als neue Kosmologie. Es besteht also keine
Akkumulation des Wissens in einem grossen positivistischen Teich, dem
verschiedene kleine Ströme von Information zufliessen – weder historisch (Kuhn)
noch erkenntnistheoretisch (Popper und Kuhn).
Man kommt nicht um Skepsis oder Zweifel herum, im
Aufstellen wie auch im Falsifizieren einer wissenschaftlichen Theorie. Deshalb
braucht es die antidogmatische Regel, eine mögliche Falsifikation klar bestimmen
zu müssen, um ein logisches Schlupfloch zu vermeiden (welches leider nicht
Fehlschluss genannt werden kann, weil wir uns nicht auf die formale Logik oder
innere Kohärenz einer Theorie verlassen können und auf uns selber gestellt
sind, das ethisch Richtige zu tun).
So bleibt der Religion nur Eines übrig: Ihre Wahrheit als
begründbaren Glauben letzten Endes im Reich der Ethik zu etablieren (man soll
an die Wahrheit – z.B. vom christlichen Gott, oder vom Monarchen, oder des
Kommunismus – glauben, weil sie ‘gut’ sei), denn dieser bleibt logisch gesehen
unbegründet.
Fortsetzung der Ethischen Thematik
Über das Wesen des Nihilismus
In
vielen Epochen, in vielen Regionen und in vielen Köpfen erscheint der
Nihilismus – wie die Nullnummer in der Sprache – als Negation der Dinge in der
Ideologie (eine Art Anti-Ideologie). Nicht als Negation der Negation, denn das
wäre ja nach Marx der Kommunismus (und nach mir völliger Unsinn), nein, als
Negation und Kritik des Glaubens.
Mein Nihilismus ist vielleicht nicht gleich der eines andern aus
einem anderen Kontext. Im heutigen Saudi-Arabien wird diese Negation aufgrund des
Glaubens anders sein – sowohl der Motivation, wie auch der kulturellen
Einstellung her – als diejenige des russischen Nihilismus des späten 19.
Jahrhunderts (in Turgenievs Roman Väter und Söhne zählt sich Bazarov zu
den Nihilisten und erklärt: „Ein Nihilist
ist ein Mensch, der sich vor keiner Autorität beugt, keinen Grundsatz
anerkennt, und sollte derselbe auch noch so verbreitet sein.“). – Ist es nicht kreativ,
ist es nicht motivierend für den Einzelnen, wenn dieser nicht nur gegen die
Religion z.B. in Saudi-Arabien, sondern gegen jegliche kulturellen Annahmen
sich aufrichten würde, wie Monarchie, Beschneidung, usw.? In unserer Kultur war
es das für mich, und ist es immer noch, so. Es kam über mich eine Art kreatives
Missionsgefühl, sämtliche Werte in mir zu finden, anstatt in
der dominanten Kultur. – Bewegungen als Negation erscheinen in der Geschichte
hie und da, welche den Glauben in ihrer Gesellschaft oder ihren Kontext – d.h.
den Glauben an sich – hinterfragen. Was aber nicht bedeutet, dass sie
jeglichen Glauben von aller möglichen Gesellschaft hinterfragen würden (was
nicht zu sagen ist, dass keiner es tut).
Der
Nihilist sieht nämlich nichts in der Kategorie der Dinge, welche in seiner
Gesellschaft „zu glauben“ sind (die Tugenden und Wahrheiten, die eine
Gesellschaft einem vorgaukelt). So wie der Atheist die Dinge der Kategorie
„Gott/Götter“ verneint. Der Nihilist ist sich bewusst, dass er sich an keine
objektiven Standarte des Glaubens halten oder festhalten kann. Das heisst
nicht, dass es keine objektive Wirklichkeit gibt oder dass man Theorien nicht
mit Fakten widerlegen könne! Es bedeutet vielmehr, dass es keine objektiv
existierende Glaubenssysteme gibt (so wie sie mit der Sprache und in unseren
Gedanken ausgedrückt sind), was ja klar (tautologisch) ist, denn sie sind
(inter-)subjektiv. Das Gute und das Böse sind eine Illusion (d.i. wenn man sie
für Objekte gehalten hätte), sie sind subjektiv, sie sind genauso „unwahr“
wie das Gefühl „salzig“*, was sie aber nicht irrelevant macht; manchmal
sind nämlich die wichtigsten Sachen subjektiv, z. B. Sachen, die wir mit (oder
in) uns tragen, wie mentale Zustände, unsere Hirngespinste und Einbildungen,
manchmal tragisch und manchmal selbstverursacht. (Subjektivität ist keine
Ausrede, entgegne ich dem Relativismus: Das Argument, dass Videospiele keine
Zeitverschwendung sind, weil das subjektiv sei, ist eine Ausrede, die mit Fragen
beantwortet werden kann: „Was ist mit dir falsch, z.B. mental, dass es für dich
keine Zeitverschwendung ist? Was für eine Person bist du? Was sind deine
Ambitionen im Leben?“, u. des w. tugendethische Fragen.)
Sokrates sagt in Platons Apologie (38a) auf der
Gerichtsbühne seinen Mitbürgern, das unexaminierte Leben sei sinnlos.[7]
Damit bin ich einverstanden; weil mir, nachdem ich mit meiner Vernunft
nachgedacht habe, das unexaminierte Leben als absurd und inakzeptabel vorkommt,
und das für mich als ethisches Kriterium beim Satz des Sokrates entscheidend
ist. Einleuchtend über die Ethik ist, dass sie nur zustande kommt, wenn eine
Verbindung zwischen meinen Gefühlen und dem, was ich weiss, besteht*, und
diese genügend stark ist, um mich in meinem Handeln zu beeinflussen, ohne eine
Ambition ist die Moral nämlich sinnlos.
Der
fromme Moralist ist in derselben Position wie der Gottesgläubige oder Theist. Dieser behauptet, an
Dinge wie Gut und Böse zu glauben sei wesentlich, weil diese
existieren.[8] Dabei geht es ihm jedoch
gar nicht um Wissenschaft, Falsifizierbarkeit, Messbarkeit, u. dergl., sondern
um die Willigkeit, an diese Dinge zu glauben, an ihnen festzuhalten, es geht
ihm um die Gottesgelahrtheit und im selben Masse um die „Theologie“ des Guten. Ich
sage: Eine Moralphilosophie ist umso ehrlicher, je mehr Unsicherheit
diese enthält*: Das ist das Problem mit Kant, dem Utilitarismus, dem
Christentum und dem Islam, sowie mit allen Dogmatiken: Sie beharren auf die
Lüg’, dass man für die Moral einen objektiven Wert setzen könne oder ein Kalkül
erstellen, ein Kriterium, ein Gebot. Darum kann sich ein Hindu in seinem
eigenen Glauben versichern, indem er einen Katholiken in seinem christlichen Glauben unterstützt; er unterstützt nämlich den
Glauben an sich, nicht mehr einen spezifischen Glauben (den des
Hindu oder des Katholiken). Der Nihilist hat sich von dieser gegenseitigen
Zustimmung des «Glaubens an sich» als selbstgefälliges Suhlen im
kulturell-spezifischen (und absoluten) Glauben seiner Mitbürger losgelöst.
Unserem Glauben unterliegt das Fehlen objektiver Sitten, der Nihilist
entfernt nur den Schleier der Ideologie – sie macht die Objektivität der Sitten
glaubwürdig und Gegenstand der Gottesgelahrtheit.
* Die drei Aussagen (kursiv, s. o.) sind von dem historischen Nihilisten Eisel Mazard (*1978) übernommen.
Diese
Einsicht teilen in einer Gesellschaft immer nur wenige, jedoch ist es (meiner
Erfahrung nach) dem Nihilist oftmals gleich, dass der Grossteil der Menschheit
die Realität der Wertenlosigkeit verkennt und sich dem einen
oder anderen kulturellen Wert fügen wird, weil kulturelle Werte von Gut und
Böse, aber auch von Oper und Schach, in ihrer aus dem Kontext geschaffenen
Ubiquität beinahe objektiv erscheinen. Nur selten wird der Nihilist zum
Missionar, denn er schert sich zu sehr darum, seine Kreativität moralisch
auszuüben, sein Bestes zu tun, um die Welt etwas besser zu hinterlassen. Denn
auch, wenn das, was wir versuchen, keinen Unterschied für andere Personen
macht, macht es einen Unterschied für uns selber, für das, was wir
sind und sein wollen (vgl. Sokrates-Zitat).
Wer es nämlich in sich hat (im Eigentum
oder als Eigenschaft; vgl. Max Stirners Eigner), die Welt ein
wenig verbessern zu wollen, sei er Nihilist oder nicht, wünscht es, und ist in diesem Sinne Egoist, weil er keinem
Höheren dient, er dient sich selbst und tut es um seinetwillen, und
nicht um des Gottes oder „Gutes“ Willen. (Die heutige Wissenschaft hat es
in der Ethologie zu einer evolutionären Erklärung der Moral geschafft mit beeindruckenden
Resultaten.[9] Was nicht zu bedeuten
meint, dass sie die Moralphilosophie obsolet macht: Im Gegenteil bereichert sie
die Philosophie als problemlösende Methode.[10])
Doch viele leugnen diese Tatsache und stellen dafür stellvertretende Gottheiten
hin und sagen, „es muss so kommen!“, „der Feminismus ist notwendig“, „die
Gleichheit wird kommen“, „die Rache Gottes ist imminent, so wie sein Segen und
sein Reich“, usw. Die Prophezeiungen eines solchen Progressivismus Glaube, wenn
sie politischen Einheiten oder Kollektiven Bedeutung zuschreiben, führen in den
Totalitarismus, und oft zu Massenmord. Die Antithese ist der historische
Nihilismus. Und das ist nicht meine eigene Auffassung; sondern so definiert das
kommunistische China den politischen Gegner in einem Dokument, das 2013 von
einer darauf verhafteten Journalistin öffentlich wurde, das «Dokument Nummer 9»[11].
Das Dokument, das von Xi Jinping unterschrieben und innerhalb der Partei
verteilt wurde, wurde meines Wissens nach seiner Veröffentlichung nur auf
Englisch übersetzt[12],
hier ein Ausschnitt (meine Übersetzung aus dem Englischen):
6. Förderung des historischen
Nihilismus [历史虚无主义], Versuch,
die Geschichte der KPCh und des Neuen China zu unterminieren.
Das Ziel des historischen
Nihilismus unter dem Deckmantel der "Neubewertung der Geschichte"
besteht darin, die Geschichte der Partei und die Geschichte Neuchinas zu
verzerren.
Dies drückt sich vor allem auf
folgende Weise aus:
Ablehnung der Revolution;
Behauptung, dass die von der Kommunistischen Partei Chinas geführte Revolution
nur zur Zerstörung geführt habe; Leugnung der historischen Unvermeidbarkeit der
Entscheidung Chinas für den sozialistischen Weg, indem man ihn als falschen Weg
bezeichnet und die Geschichte der Partei und Neuchinas als
"kontinuierliche Serie von Fehlern" bezeichnet; Ablehnung der
akzeptierten Schlussfolgerungen zu historischen Ereignissen und Figuren,
Verunglimpfung unserer revolutionären Vorläufer und Verunglimpfung der Führer
der Partei. Kürzlich nutzten einige Leute den 120. Geburtstag des Genossen Mao Zedong
aus, um den wissenschaftlichen und richtungsweisenden Wert des Denkens von Mao Zedong
zu leugnen. Manche versuchen, die Zeit vor der Reform und Öffnung von der Zeit
danach zu trennen oder diese beiden Perioden sogar gegeneinander auszuspielen.
Durch die Ablehnung der Geschichte der KPCh und der Geschichte Neuchinas
versucht der historische Nihilismus, den historischen Zweck der KPCh
grundlegend zu unterminieren, was gleichbedeutend damit ist, die Legitimität
der langfristigen politischen Dominanz der KPCh zu leugnen.
Hiermit ist die anhaltende
politische Relevanz des Nihilismus belegt und vielleicht ihre künftig positive
Rolle, jedenfalls in meinem Leben.
O.D.S.
[1] Im Nachhinein weiss ich, dass das Wittgenstein-Zitat
von seiner späteren Philosophie stammt, bei der er sich von seinem früheren
Positivismus entfernte. In seinem späteren Leben befasste er sich immer mehr
mit Mystik und dem Problem des subjektiven Wissens.
[2] The Open
Society and Its Enemies (UK: Routledge
Classics, [1945] 2012).
[3] Einführung in After the Open Society: Selected
Social and Political Writings (UK: Routledge Classics, 2008).
[4] Ich bin mir bewusst, dass ich Feyerabends (1924-1994)
Spruch auf S. 20 aus seinem Against Method (1975 erschienen) etwas ins
Sarkastische ziehe.
[5] Siehe sein
berühmtes historisch-epistemologisches Werk, The Structure of Scientific
Revolutions (Chicago: UCP, [1962] 2012). Popper formulierte eine Theorie der wissenschaftlichen Revolutionen
schon 1940 in einer Vorlesung in Neuseeland (After the Open Society, reproduziert
in Kapitel 5). Später unterscheidet er zwischen ideologischer und
wissenschaftlicher Revolution, erklärt Letztere als rationale Revolution,
welche eine ideologische Revolution hervorbringen könnte, was jedoch oft nicht
geschieht, und weist darauf hin, dass die ideologische Revolution sich auch
ohne wissenschaftliche Befunde ereignen kann (Kapitel 2 in The Myth of the
Framework. In defence of science and rationality [New York: Routledge,
1994]). In jensten wissenschaftlichen Gebieten wird von Wissenschaftlern seit den
Siebziger- und Achtzigerjahren angekündigt, dass ihre Arbeit ein «Neues Paradigma»
verkörpert und Teil einer «wissenschaftlichen Revolution» sei; solche
Behauptungen sind jedoch eher ideologisch motiviert.
[6] Diese drei Kriterien bespricht Popper in Kapitel 10 von Conjectures and Refutations. Zusammenhängend gehört seine Auslegung in The Myth of the Framework, wo er zwei logische Kriterien nennt: Erstens müsste ein «Neues Paradigma» revolutionär sein und dem vorherigen Paradigma logisch widersprechen, zweitens jedoch den Erfolg des letzteren vollständig erklären können, und somit konservativ und traditionell sein (S.12). Zudem können nach Popper Theorien, wenn sie sich historisch aus den gleichen Problemen entwickelt haben, immer logisch verglichen werden, da sie stets übersetzbar sind (ebenda Kapitel 2). All dem widerspricht Kuhn nicht (siehe sein «Postscript – 1969»), doch Kuhn’s Begriff der Inkommensurabilität wurde oft so verstanden, dass ein Entscheid zwischen zwei Theorien zwangsläufig irrational sei.
[7] Z.B. Übersetzung von Rafael
Ferber, 2011; Hervorhebung von mir: «Wenn ich
aber sage, dass dies für einen Menschen das höchste Glück sei, jeden Tag über
die Tugend und über die anderen Dinge, über die ihr mich habt reden hören, zu
diskutieren, indem ich mich selbst und andere prüfe, dass aber das Leben
ohne Prüfung [von sich selbst und anderen, R. F.] nicht lebenswert sei
für einen Menschen, dann werdet ihr euch von meinen Worten noch weniger
überzeugen lassen.»
[8] Zusammen mit dem Fazit des obigen Textes, nach
welchem die Religion (Gott, das Gute, usw.) sich in der Ethik zu etablieren
bräuchte, entsteht ein sich schliessender Zirkel – ein Zirkelschluss: p
= «Das Gute existiert, da es ‘gut’ ist, daran zu glauben, es existiere wirklich;
dass es ‘gut’ sei, daran zu glauben, konnte ich erkennen, weil ich es irgendwie
am Guten ermessen konnte.» Daher muss das Gute existieren. Was sich auch als dogmatischen
Abbruch formulieren lässt: p = «Das Gute existiert.»
[9] Siehe Gerhard Medicus, Kapitel 4 (5. erweitert und
korrigierte Auflage), Was uns Menschen verbindet. Angebote zur Verständigung
zwischen Natur-, Kultur-, und Geisteswissenschaften (DE: VWB, 2020) und
Norbert Bischoff, Moral: Ihre Natur, ihre Dynamik und ihr Schatten (Gießen:
Psychosozial-Verlag, [2012] 2020).
[10] Zu einer mir verbündeten Haltung gegenüber Metaphysik
und Pseudophilosophie, die zu keinen Lösungen kommen, siehe zum Abschluss meine
Übersetzung eines Videos von Eisel Mazard auf YouTube, “Über die Metaphysik:
Ein Grossteil der Philosophie ist nicht der Rede wert.” (2020). Dazu möchte ich
hier noch seine eigenartige Identifizierung der nihilistischen Philosophie mit
Kunst bemerken. In seinen Worten (2016): «Ich bin mir meiner Rolle bei der
Schaffung, Verzerrung und Neuerschaffung [von menschlichen Werten] bewusst.» «Bei
dem, was die meisten Leute in Bezug auf Glaubensfragen antreffen, sitze ich in
Wirklichkeit vor einer leeren Leinwand. Ich begegne Dingen, die ich selbst
geschaffen habe.» «Du bist nicht der Beobachter/die Beobachterin, du bist der
Künstler/die Künstlerin.» Auch hier gibt es parallelen mit Poppers Ablehnung
der blossen Beobachterrolle (im Positivismus) kontrastiert mit der eigentlichen
Logik der Forschung (s. o.).