Der Fortschritt in der Pädagogik (Chinesisch in der Schweiz)

In den zwei 2021 erschienenen Büchlein, L'art d'enseigner le chinois und Les gestes du chinois, umreisst Jean François Billeter eine «Methode», wie die intrinsischen Gesten im Chinesisch zu erfassen sind. Während die grosse Mehrheit an Chinesischlernenden einer vermeintlich universellen auf europäischen Sprachen basierten Grammatik ausgesetzt sind, lehrte Billeter für Jahrzehnte an der Universität in Genf zusammen mit seiner Frau eine von Grund auf neuentwickelte linguistische Analyse. Herausgefunden haben sie, wie verschiedene Unterrichtsabläufe von ihren Prinzipien hergeleitet in der Praxis aussehen können. Eine Erfahrung, auf die Claudia Berger, Präsidentin des Schweizerischen Fachverbands Chinesisch (SFVC), seit sie ihre Lizenz im Studium bei Billeter abschloss, aufbaut. Demnächst wird sie ihre neu dazugekommenen Anwendungen und Anschlüsse niederschreiben, um ihren Erweiterungen eine Zukunft zu sichern, da sie nächstes Jahr in Rente gehen wird, während bereits einige Nachfolger Chinesisch-Unterricht für Französischsprechende bei ihr erlernen. Verläufe, auf die ich in den kommenden Jahren gespannt sein kann, sind also im Gange, die meiner Meinung nach heikle Lage des Chinesisch Lernens in Europa zu verbessern.

Durchaus verbesserungswürdig ist der unsystematische und zeitaufwendige Umgang mit digitalen Tools und die Integration von Lehrhilfsmitteln über innereuropäische Sprachschranken hinweg (falls niemand es unternehmen sollte, könnte ich es mir vorstellen, Billeters Bücher auf Deutsch und Englisch zu übersetzen, allenfalls in eigenen Lehrmaterialien übersetzt zu zitieren). Dürftig ist dennoch auch die Entwicklung fundamentalerer Ansätze. Doch ohne institutionelle Eingliederung chinesischer Sprachkurse geht alles in Schneckentempo. Da Konfuzius-Institute einen noch untragbareren Kompromiss für mich darstellen würden als ein Chinesisch-Studium nach Lehrplan an einer Universität, habe ich mich umgesehen nach solchen Eingliederungsmöglichkeiten an der Sekundarstufe II. Und tatsächlich wird der Chinesisch-Unterricht an den schweizerischen Gymnasien vom SFVC gefordert.

Ein Umfeld zu schaffen, das eine neutrale und kritische Auseinandersetzung mit der Politik Chinas beim Erlernen der Sprache erlaubt, bleibt ohne diese Forderung für den Ausbau des Angebots in Europa mit wenig Aussicht – aussichtsloser noch scheinen die Möglichkeiten in China oder Asien allgemein eine vergleichbare Lernerfahrung absolvieren zu können. Trotzdem sehen sich viele (oder sogar alle, je nach Massstab) während oder nach dem Sinologiestudium gezwungen nach China oder Taiwan zu reisen, wenn sie wirklich Sprechen lernen wollen.

Nebst einem neuen Sprachverständnis benötigt der kulturelle Austausch, dass man kritische Stimmen tiefer mit in den Diskurs einbezieht und sich politisches Vokabular aneignet. Wie viele kennen die Wörter 組織部 (Organisationsbüro) oder sogar 警察 oder 民警 (Polizei) nach vier Jahren Bachelorstudium? Es wundert mich tatsächlich, welche Wörter von der Mehrheit der Studenten in Sinologie einfach nicht gelernt werden, Wörter, die ich mir in meinen ersten Wochen aneigne, da ich Texte mit politischem Vokabular gesucht habe, um sie nach dem Satzbau zu analysieren. Das erste habe ich aus einer Kurzgeschichte mit einer französischen Übersetzung daneben, editiert bei L’Asiathèque (2021). Solche bilingualen Editionen erleichtern die langwierige Aufgabe, Vokabular ausfindig zu machen. Dennoch könnten für Anfänger die Wörter z.B. mit Markierungen unterteilt werden. Das andere ist aus einem Video mit deutschen Untertiteln auf dem YouTube-Kanal «Chinas Freie Stimmen» von Eva Lüdi-Kong. Videos auf Chinesisch, sehr oft mit chinesischen Untertiteln versehen, ermöglichen vielerlei Sachen: Ein Wort vom nächsten durch das Gehör zu unterscheiden; die Satzmelodie und Tonänderungen innerhalb des Satzes festzustellen; aber auch sich an andere Aussprachen je nach Dialekt zu gewöhnen. Leider ist Evas Kanal eine Ausnahme, denn die Stimmen der chinesischen Dissidenten erreichen Europa immer noch in sehr geringem Anteil, geringer noch, als das heute der Fall ist mit Dissidenten aus dem arabischen Raum.

Der grosse Aufwand in chinesischen Sprachen besteht darin, sich Vokabular anzueignen, wobei man ein Zeichen so direkt wie möglich mit einer Silbe und dessen Tonalität assoziiert − deshalb Ideophonogramm genannt. Am besten eignet man sich das Vokabular durch Repetition für einen bestimmten Text an und kümmert sich danach um die Syntax. Wendet man diese Angehungsweise für Jean-François Billeters «Les gestes du chinois» an, liest sich das Büchlein auch leichter.

Wie schon im vorherigen Blogartikel berichtet, ist es empfehlenswert, die visuelle Etymologie für jedes Ideophonogramm auf atomare Weise durchzugehen und zu zerlegen mithilfe der semantischen Schlüsseln, die sich Kangxi 康熙 nennen, man sollte sich jedoch nicht auf diese reduzieren, weil durch den Prozess der Systematisierungen und Vereinfachungen Sinnesumbrüche entstanden sind, die die Bedeutung moderner Zeichen verfälschen. Die Duplizierung einiger Zeichen in vereinfachte Kurzzeichen und nichtvereinfachte Langzeichen Varianten (sowohl im geographischen und geschichtlichen Gebrauch wie auch im Unicode), verlangt von Chinesischlernenden noch einen weiteren Aufwand, wobei jede kleine Aufwandserleichterung mit digitalen Mitteln (z.B. der Wörterbuch-App «Pleco») willkommen geheissen wird. Analoge Lehrmittel, die beide Varianten zusammennehmen sind sehr gering.

Es kombinieren sich leicht zwei digitale Lehrmittel miteinander: Google Sheets Tabellen und Quizlet Karteikartensets. Auf Google Sheets kann man in der ersten Kolonne seine Liste mit (z.B.) vereinfachten Zeichen erstellen und in die erste Zeile der zweiten Kolonne die Formel «=GOOGLETRANSLATE(A1, ”zh_CN“, “zh_TW“)» eingeben, wobei «zh» der Sprachcode für Chinesisch ist und _CN und _TW spezifizieren, ob es sich dabei um vereinfachtes (China) oder nichtvereinfachtes (Taiwan) Chinesisch handelt. Wenn also die Liste beider Varianten erstellt ist, kann man sie direkt mit copy-paste bei Quizlet einfügen, um sich die zwei Varianten einander im Gegenüber zu merken.

Ich hoffe darauf, weitere solche Tipps zu entdecken und eigene Lehrmittel kreieren zu können, die in Betracht ziehen, was sonst einfachheitshalber keine Bemerkung von der Lehrperson veranlassen würde. Zum Beispiel habe ich mich ein wenig von den UNO-Kartenspielregeln inspirieren lassen, um ein Chinesisch-Kartenspiel auszutüfteln, das die bessere Unterscheidung der vielen homophonen und ähnlich aussehenden Zeichen abzielt, auch indem sie einander gegenübergestellt werden. Mit der Moral: Je besser man unterscheiden kann, je einfacher schafft man es, seine Karten niederzulegen und umso weniger fallen die neu gezogenen Zeichen zur Last. Bei meinem Spiel helfen die vier Farben bei der Aussprache der vier Tonalitäten.

Vorerst beschäftige ich mich aber mit Billeters und Bergers Pädagogik, damit ich die Komplexität der chinesischen Linguistik zu schätzen lerne. Ein gutes Beispiel ist das Silent Way-Schema (in L'art d'enseigner le chinois), das alle Aussprachen im Chinesischen zusammenfasst. Es ist hingegen nicht so einfach anzuwenden, wie es beide tun, weil einige Kombinationen von Konsonanten und Vokalen im Sprachgebrauch nicht existieren, d.h. man muss selektiv sein. Dazu wendet Berger sich eher an frankophone Schüler, indem sie mit ihnen bekannten Dialekten oder Wörtern erklärt, wie sie diese Töne erzeugen können. Die Töne werden zuerst mit Farben assoziiert, danach erhellt sie, wie Pinyin-Romanisierung daraus erschlossen wird. Die Lehrmethode lässt sich also nur mit ein wenig Erfahrung und Aufwand auf Deutsch oder English übertragen und nur allmählich perfektionieren.